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Das Kind, das Anna in den Fuss biss
10. Dezember 2023
Seit ihrer Stellvertretung an Weihnachten vor einem Jahr - Anna hatte damals versucht, die Weihnachtsgeschichte mit einer Integrationsklasse als Theaterstück aufzuführen - hatte sie es tunlichst vermieden, sich wieder auf eine solche Arbeit einzulassen. Bis gestern. Ein SOS - Ruf von Annas ehemaliger Chefin erreichte sie am Vorabend. Die Theaterpädagogin sei krank, man sei in einer misslichen Lage, warteten doch insgesamt 18 Primarschulklassen, eingeteilt in sechs Gruppen, im 20 Minutentakt in die zauberhafte Welt des Theaters eingeführt zu werden. Anna war sehr empfänglich für Schmeicheleien. Als die Chefin ihr ins Ohr säuselte, wie erfahren und flexibel sie doch sein, und wie traurig es ist, ihre Fähigkeiten so brach liegen zu sehen, musste sie einfach zusagen.
Der Raum, indem das Spektakel stattfinden sollte, war angenehm. Keine Turnhalle, Gott bewahre! Ein schöner Raum im alten Schloss, mit viel Holz und wunderschöner Aussicht auf das Dorf und den Innenhof des Schlosses. Eine gute Voraussetzung für eine risikoreiches Unternehmen wie dieses.
Die erste Gruppe von Kindern, etwa 40 an der Zahl erschien pünktlich, frisch vom Morgentau und mit erwartungsvollen leuchtenden Augen ließen sie sich von Anna willig führen. Sie spielten "Klebriger Ball" und brachten immer neue Ideen, was denn dieser kleine grüne Lederball sonst noch alles sein könnte: ein Igel, den man im Kreis von Hand zu Hand geben musste, ein schwerer Stein oder ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war und welches man sachte wieder dorthin zurücktrug.
Die zweite Horde, diesmal etwa 50 Kinder, fiel wild und laut in Annas Zauberwelt ein. Sie waren älter und hatten zum Teil Namen, welche Anna schwer verstand und kaum aussprechen konnte.
Trotzdem, sie wollten etwas erleben und gaben ihrem Interesse lautstark Ausdruck. Vor allem das Rollenspiel hatte es ihnen angetan. Anna hatte eine Schachtel mit Zettelchen vorbereitet. Daraus durfte jeweils ein Kind eines auswählen und diese Rolle wurde dann von allen gespielt. Anna hoffte insgeheim, dass kein Tiger oder sonst etwas Gefährliches gezogen würde. Beim Koch, der Prinzessin oder dem Gärtner konnte nicht viel Schlimmes passieren, außer dass vielleicht ein Kind eine imaginäre Schaufel über den Kopf gehauen bekam. Schwieriger wurde es schon beim Zauberer oder Polizisten. Der musste natürlich rumballern und über die Gauner herfallen.
Bei der dritten Gruppe von Kindern, Anna verspürte schon die ersten Zeichen von Heiserkeit, war es dann soweit. Bei der Improvisation "Wo bin ich" wurde "Kino" gezogen. Super, dachte Anna, die Kinder können nicht rumrennen, sondern müssen sich vor eine imaginäre Leinwand setzen und zuschauen. Weit gefehlt. Die Akteure im Film wurden sofort live gespielt, was beim Monsterfilm besonders gruselige Szenen zur Folge hatte. Anna unterbrach mit ihrem Zaubergong. Sie überlegte einen kurzen Moment, wie sie die Kinder und vor allem die anwesenden Lehrkräfte etwas beruhigen könnte und gab das Genre "Tierfilm" ein. Aber auch hier dauerte es nicht lange, bis einige Kinder sich aus dem Zuschauerraum des Kinos ins Geschehen auf der imaginären Leinwand stürzten und von dort wieder zurück in den Kinosaal! Auch Anna befand sich natürlich hier und schrie plötzlich auf! Ein Tiger hatte sie ins Fußgelenk gebissen! Ja wo gab es denn so etwas! Und da behauptete man, die heutigen Kinder seien träge und hockten nur schlapp herum!
Sie sind mutig, meinte ein Lehrer, als er mit seiner Klasse den Raum verließ. War das jetzt ein Kompliment oder eine Kritik? Anna entschied sich, die Aussage als Kompliment zu deuten und kümmerte sich um ihr verletztes Fußgelenk. Zum Glück war gerade Pause!