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Die Brücke

22. Mai 2021

Als Anna das Gebäude verliess, hatte sie eine dunkle Vorahnung. Der kleine Picks im Arm hatte etwas ausgelöst. Anders als beim ersten Mal hatte sie ein Brennen gespürt. Der junge Mann am Ausgang wünschte ihr alles Gute. Es schien von Herzen zu kommen, obwohl er heute sicher schon hundert Mal den gleichen Satz gesagt hatte. Ob er den ganzen Tag hier stehen musste? Wahrscheinlich hätte er sich gerne auf einen Stuhl gesetzt. Stühle waren Mangelware. Sie standen in der grossen Halle in abgemessenen Abständen und wurden einem zugewiesen. Beim ersten Mal war das so. Dieses Mal war Anna direkt in eines der kleinen Abteile gelotst und auch sofort wieder hinausbugsiert worden. Fünf Minuten Ausruhen und Auschecken. Im Auto warf sie einen kurzen Blick aufs Handy. Dann fuhr sie los.

 

Es herrschte bereits Feierabendverkehr. Das Wechseln der Spur auf der Autobahn war schwierig. Sie fühlte sich unsicher, anders als sonst. Dann kam diese Brücke. Sie hatte sie schon hunderte Male überquert. Jetzt stauten sich die Autos. Mitten auf der Brücke steckte Anna fest. Sie öffnete das Fenster und stellte den Motor ab. Dann schaltete sie das Radio ein. Die Stimme des Sprechers erklang. Das Hörbuch begleitete sie auf allen Fahrten. Die moderne Technik erlaubte es. Was die Stimme sagte, verstand sie nicht. Vielmehr nahm sie ein Rauschen in ihrem Kopf wahr. Eine leichte Übelkeit überfiel sie.

 

Der Fahrer vor ihr hatte seinen Wagen verlassen. Er lehnte lässig an seinem alten Ford und rauchte eine Zigarette. Ob sie ihn bitten sollte, ihr eine zu geben – manchmal half das gegen Kreislaufprobleme. Nein, ihr war übel. Sie brauchte frische Luft, sonst gar nichts. Wieso nur liess der Idiot hinter ihr den Motor laufen. Es stank doch schon genug!

 

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte langsam ein- und auszuatmen. Die Augen hielt sie geschlossen. Alles drehte sich. Sofort öffnete sie die Augen wieder und versuchte aufrecht zu sitzen. Das Rauschen wurde stärker, ein stechender Kopfschmerz durchfuhr sie. Wasser – wo war die Wasserflasche. Es gab keine. Sie erinnerte sich, dass sie am Vormittag das Auto vom Müll befreit hatte. Eine halbleere Wasserflasche war dabei gewesen. Sie hatte befürchtet, das Wasser könnte verdorben sein. Wieso war sie nur immer so übervorsichtig!!

 

Panisch riss sie die Autotür auf und versuchte auszusteigen. Der Mann mit der Zigarette schaute kurz in ihre Richtung und dann wieder weg. Plötzlich hatte sie die Bilder der eingestürzten Brücke in Mexiko vor Augen, Metallstücke, Steinbrocken, eingedrückte Hausdächer. Ihr linker Fuss berührte den Asphalt. Er gab nach. Die Brücke gab nach! Sie hörte einen kurzen durchdringenden Schrei. Der Mann drehte sich zu ihr um. Während sie sich wieder in den Sitz fallen liess, kam er auf sie zu. Die Zigarette hatte er achtlos zu Boden geworfen. „Vorsichtig! Der Boden!“ schrie Anna. Er war jetzt ganz nahe und kniff die Augen zusammen. „Kann ich helfen?“ „Die Brücke – sie stürzt ein – zu viele Autos“, keuchte Anna. „Langsam und ganz ruhig, sagte der Mann, alles ist in Ordnung.“ Er verschwand, um gleich danach mit einer halbvollen Petflasche wieder zu erscheinen. „Hab nur das, trinken sie“. Ohne zu zögern nahm sie einen Schluck. Es tat gut. Kurz schloss sie die Augen. Dann flüsterte sie „Danke“. Der Mann stand immer noch vor ihrem Auto. Der Boden hatte nicht nachgegeben. „Geht’s wieder?“ Sie nickte. „Behalten sie die Flasche.“ Und wenn er nun Corona hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Hinter ihr hupte es. „Wir müssen.“ Er ging zu seinem alten Ford und zwinkerte ihr noch einmal zu. Sie startete den Motor. Langs bewegte sich die Autoschlange vorwärts. Gleich hatten sie das Ende der Brücke erreicht. Sie fühlte sich besser. Sympathisch war er, dieser Typ mit seinem alten Ford.

 

 

22.5.2021

©P-Dur

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