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Ich bin eine Fredliebende

01. November 2020

 

«Ich bin eine Fredliebende.» « Wie bitte?» Fred liess die Zeitung sinken und schaute Anna unsicher an. «Du bist eine Friedliebende? Davon merke ich in der letzten Zeit aber wenig.» «Eine Fredliebende, nicht eine Friedliebende», erwiderte Anna. «Was soll denn das heissen?» Fred faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. «Das heisst, dass ich dich als Objekt nicht brauche.» Fred war empört. «Da haben wir’s! Und so etwas will eine Friedliebende sein?» «Aber Fred, ich rede von Brentanos These der Intentionalität!» Anna griff nach der Zeitung. «Seit wann braucht ein Dichter Thesen?» fragte Fred. »Soviel ich weiss, entstehen Gedichte einfach so. Ein Gefühl drängt ins Bewusstsein und wird dann formuliert.» «Bei Brentano wird vor allem umformuliert», warf Anna ein. «Übrigens sollte man auch den Begriff «Bewusstsein» etwas genauer betrachten», sagte sie und schlug die Zeitung auf. «Wieso umformulieren? »Reicht formulieren nicht?» Nein Fred, beim Franz eben nicht.» «Er heisst Clemens», erwiderte Fred und blickte Anna belehrend an. «Nein! Der, welcher umformuliert heisst Franz und der, der formuliert heisst Clemens.» Anna schaute triumphierend über den Rand ihrer Lesebrille. Fred schien nachzudenken, dann sagte er plötzlich:

«Da wir zusammen waren

Da sang die Nachtigall

Nun mahnet mich ihr Schall

Dass du von mir gefahren.»

«Das ist von Clemens, nicht wahr”, sagte Anna. «Es ist traurig. Wie geht es weiter?» «Das hängt eben von der Intentionalität ab», meinte Fred und fuhr fort:

«Gott wolle uns vereinen,

hier spinn ich so allein

der Mond scheint klar und rein

ich sing und möchte weinen.»

«Nimm es nicht so schwer, sagte Anna. Wenn hier jemand spinnt, bin ich es.» «Welche Einsicht plötzlich!» Fred guckte hoffnungsvoll. «Aber mein Brentano heisst Franz», sagte Anna.

©P-Dur 31.10.2020   Der Text entstand nach einer Vorlesung über Franz Brentano

Auszüge aus dem Gedicht «Der Spinnerin Nachtlied» von Clemens Brentano

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